Was ist Empathie?

So, 6.12.2020, 15:30-17:30 Uhr
Was ist Empathie?
TeilnehmerInnen: Marianne, Lilli, Anja

Vielleicht hat es mit dem Thema zu tun, vielleicht auch, weil die Männer als Nikoläuse unabkömmlich waren, jedenfalls kamen erstmals nur Frauen zum Philosophischen Spaziergang. erkenntnisdurstig waren sie allemal, daher haben wir auch einiges über die Empathie herausgefunden.

Wie immer wurde auf dem zweiten Wegabschnitt eine Geschichte aus dem Leben erzählt, die mit dem Thema im Zusammenhang steht. Was uns dadurch auffiel war, das Zusammenspiel zwischen Empathie und Urteil, denn die Erzählerin erwähnte mehrmals und ausdrücklich, dass sie während der empathischen Beobachtung der geschilderten Szene registrierte, dass sie über die beobachteten Menschen nicht urteilte. Die Urteilsenthaltung ist eine hinreichende Bedingung für Empathie, denn Urteile tragen oft eine verborgene Eigenschaft unter ihrem Deckmantel: sie sondern uns ab. Urteile errichten eine fast unsichtbare Barriere zwischen dem Subjekt (das wahrnimmt) und dem Objekt (das wahrgenommen wird). Urteile erschaffen das abgegrenzte Ich, seine Identität (und damit seine Stabilität) und Urteile basteln unablässig unsere Vorstellung über die Wirklichkeit zusammen. Daher: um empathisch zu sein, müssen wir das Basteln unterbrechen, die Grenzbalken des Ich zumindest für kurze Zeit öffnen, und möglichst (vor)urteilsfrei wahrnehmen was ist.

Eine zweite Voraussetzung, die wir entdeckt haben, ist die Muße. Wir müssen Zeit haben. Stress und Speed kills Empathie. Denn Stress bedeutet, dass wir irgendwelchen (zumeist beängstigenden) Vorstellungen entfliehen oder nachjagen und keine freie Aufmerksamkeit vorhanden ist, die etwas beobachten kann. Gehetzten Menschen entgehen so unzählige Möglichkeiten empathisch zu sein. Wobei: empathisch zu sein kann auch stressig und anstrengend sein, denn wir öffnen dabei ja unsere Grenzen und lassen neue Informationen unkontrolliert (ohne Vorurteile) in unser psychologisches Zentrum (das Ich) einreisen. Dabei können neue, fremde und verstörende Informationen unsere schöne Bastelei (also unsere Vorstellungswelt) gehörig durcheinander bringen. Das ist der Grund, warum empathische Erfahrungen noch Tage später in unserem Bewusstsein rumoren können. Durch die Offenbarung solcher Nachteile, haben wir uns gefragt, was die Vorteile der Empathie sein können?

Der potentielle Vorteil, den empathische Menschen haben ist die Chance auf Lebendigkeit, sofern wir Lebendigkeit mit Lernen gleichsetzen. Nur neue Informationen, neue Rätsel, neue Erfahrungen können Lernimpulse setzen, die – gut verarbeitet – dazu führen, dass aus unseren zusammengebastelten Vorstellung über die Wirklichkeit langsam belastbarere und solidere Konstruktionen werden. Der Gradmesser für die Tauglichkeit unserer Vorstellungswelt ist die Seelenruhe. Bleiben wir gelassen in Situationen die uns nicht gleichgültig sind, oder können wir den inneren Frieden nur herstellen, in dem wir uns abschotten und zum Krampus werden; leblos, humorlos und vertrocknet, verblüht und verdorrt?

Der tiefste metaphysische Grund für unsere Fähigkeit zur Empathie ist die Einheit. Durch unsere Existenz in Raum und Zeit sind wir dazu genötigt im Laufe unserer Entwicklung Individuen (getrennte Einzelwesen) zu werden. Das auffälligste Merkmal dieser Abtrennung auf der biologischen Ebene ist die eigene Haut, auf der psychologischen, die eigene Vorstellungswelt. In Wirklichkeit allerdings gibt es nur das Eine, aus dem die Vielen entstehen. Erblicken wir also etwas oder jemand, sehen wir uns immer nur selbst: Tat Twam Asi (Sanskrit: „Das bist du“). Genaueres dazu schreibt Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Moral.