Was ist Illusion?

So, 7.2.2021, 16:00-17:15 Uhr
Was ist Illusion?
TeilnehmerInnen: Harvey

Harvey erzählte über seinen kindlichen Berufswunsch, also einer Illusion mit der beinahe jedes Kind spielt, um Erwachsenenrollen auszuprobieren oder die auf bereits im kindlichen Gemüt kristallisierten Eitelkeiten beruht. Selten können sich diese trügerischen Hoffnungen tatsächlich im späteren Lebenslauf materialisieren oder hinterlassen zumindest blasse Spuren. Zumeist bleiben sie ziemlich substanzlos und sind eine rasch diffundierende Täuschung oder Fiktion.

Die Genese von Fiktionen ist beachtenswert. Sie entspringen aus dem Nichts. Aber soweit zurück bis hin zur Quelle, gelangt auch eine passabel entwickelte Bewusstseinskraft nicht. Und wo es kein Bewusstsein gibt, darüber kann man nichts sagen. Oft verliert sich die Spur unserer Gedankengänge nach wenigen Vorrückungen. Wer jemals versucht hat zu ergründen, wie das hitzige Thema in einer Diskussion oder ein lauter Gedanke entstanden ist, weiß wie rasch man die Suche nach der ursprünglichen Heimat des Gedankens aufgibt und ermattet eine Boje in die Tiefe des Gedankenmeeres versenkt, um den Ursprung zu markieren. Dennoch lohnt sich die Suche, denn wenn wir auch oft nicht an die Grenze des Entstehungsorts einer Fiktion gelangen, so ist doch der Besuch im nächstgelegenen Grenzort aufschlussreich, denn dort hat sie bereits soweit Gestalt angenommen, damit sie zumindest in ihrer kindlichen Form erkannt und ihre weitere Entwicklung im Nachhinein erklärbar wird. Eine Illusion entsteht zwar aus dem Nichts, kristallisiert aber in einer Umgebung, die wir untersuchen können. Die Umgebung liefert das Geländer, an dem sich die Illusion entlang hantelt. Sie entsteht zwar aus dem Nichts, entwickelt sich jedoch in einer Umgebung, die aus bereits materialisierten Fiktionen besteht, die uns vertraut sind und die neue, sprudelnde und hoffnungsfrohe Fiktionen formen.

Es gibt mittlerweile nur mehr Illusionen zweiter Ordnung. Jede Illusion ist zunächst ungestüm und radikal. Spätestens aber, wenn sie hinter dem Nichts im nächstgelegenen Grenzort eintrifft, muss sie Anschlussfähigkeit signalisieren. Sie braucht die Interferenz, wenn sie sich materialisieren und statische Strukturen bilden will. Es gibt keine Illusion erster Ordnung – wie unmittelbar nach dem Urknall – die aus dem Nichts entsteht und in einem Nichts Form annimmt. Selbst monströse Gestalten aus der Sciencefictionszene erweisen der uns bekannten Welt ihre Referenz und haben zumindest subtile Ähnlichkeiten mit bereits Erkanntem. Moralisch isolierte Illusionen, die mit roher Gewalt in der Grenzregion einmarschieren, zerplatzen bald, wenn sie weiter vorrücken, ohne den Rückhalt des Bestehenden zu erbitten. Die Illusion braucht die Kenntnisnahme. Kenntnisnahme gibt der Illusion die Chance auf Heimat und Bestand. Dann kann sie Fleisch werden und unter uns wohnen – so lautet die Wandlungsformel von der Illusion hin zu dem was der Fall bleibt.

Um zu überleben muss sich die Illusion verwandeln und anpassen. Sie verliert an Schwung, gewinnt dabei aber Dauer. Die kreative Verschränkung von Fiktion und Faktum erzeugt das. was davor noch nicht da war und demoliert Althergebrachtes, dessen Trümmer sie als recyceltes Baumaterial nutzt. Das Ganze, erkennbar, weil zerlegt in einzelne materialisierte ehemalige Fiktionen, ist das Wahre.

Gegen Ende unseres Lebens überblicken wir das Ganze unseres Lebens; von der kindlichen Illusion ausgehend, die im ersten Grenzort zum Nichts das Licht der Welt erblickte, über die weitere Entwicklung dieses plätschernden Anfangs, wie geschickt oder ungeschickt der Lebensfluss sein Bett gewählt hat, welche Vertiefungen er in die vorhandene Landschaft grub, ob er er malerisch mäanderte, wo er sich verausgabt, wem er gedient hat, bis hin zu der Frage, ob er sich in das Meer ergießen wird, in einen anderen Fluss mündet oder als Sumpf endet. Das Ganze offenbart die Wahrheit über das Schicksal der Illusion.