Philosophische Praxis
Eine lexikalische Beschreibung, was Philosophische Praxis sein könnte, ist auf Wikipedia zu finden. Ein schöner und bebilderter Text findet sich auf den Seiten der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP), deren Mitglied ich bin (ebenso wie bei der Gesellschaft für angewandte Philosophie GAP in Österreich). Meine Zugangsweise würde ich wie folgt beschreiben:
Was ist die Leitdifferenz der philosophischen Praxis? Was ist wichtig, was unwichtig? Wichtig ist nicht das ewige Leben, sondern die ewige Lebendigkeit. Um es formvollendeter auszudrücken, bitte ich Friedrich Nietzsche vor den Vorhang:
Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdrießlich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während jene [die Paare Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer] mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am „ewigen Leben“ und überhaupt am Leben gelegen!
Die Lüsternheit nach Leben muss die Ursache sein, warum Menschen die Philosophische Praxis aufsuchen. Sie kommen freiwillig, als Gäste, die – nach Gerd Achenbach – mit den weißen Figurenden ersten Zug machen. Das Wollen dieser Eröffnungssequenz ist die Eintrittskarte in die Philosophische Praxis. Der Grad der Lüsternheit nach Leben ist der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit der Gäste und damit für die Frage, ob etwas (und wenn ja, wie viel) für sie auf dem Spiel steht.
Sofern seine Gäste dazu bereit sind, möchte der Philosophische Praktiker seinen Gästen dabei helfen mehr lebendige Eindrücke zu generieren, in dem er ihnen ermöglicht, dass ihre "eingedrückten" Erlebnisse den richtigen Ausdruck – die richtige Struktur – bekommen. Der Begriff "Richtig“ orientiert sich hier an der „lebenspraktisch bewährten Welterkenntnis“ aus 3000 Jahren Philosophie- und Ideengeschichte.
In welche Region sich die Skala des „Richtig“ erstreckt ist noch zu besprechen, denn diese Fragestellung führt in das Niemandsland, das zwischen Coaching und Philosophischer Praxis liegt. Coaching räsoniert über die effizienteste Möglichkeit die Differenz zwischen dem, was ist (Sein) und dem was sein soll (Sollen), zu überwinden. Die Sphäre des Coachings endet dort, wo das Organ der Klugheit, der Verstand, zu versagen beginnt und die Sphäre der Weisheit beginnt. Die Weisheit stellt das Sollen in Frage und versucht soviel Sein wie möglich zu begreifen. Und für die Weisheit muss man Zeit haben. Obwohl nach Michel de Montaigne der sicherste Stempel der Weisheit „ein ununterbrochener Frohsinn“ ist - ein Abdruck der Lebendigkeit -, nehmen sich nicht alle Gäste die Zeit, um den Versuch zu wagen weise „Lebenskönner“ (Achenbach) zu werden. Das macht nichts, denn der Philosophische Praktiker kommt auch mit Tadelnswertem zurecht, wenn er es mit Nietzsche hält:
… dem und jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! - Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!
Aber was genau ist jetzt der Grund, der die Lust und Freude am langen Da-Sein erzeugt? Es ist die geheime Leidenschaft des Philosophischen Praktikers für den Maskenputz mittels Reflexion und sein Faible für Geheimnisse. Der Mensch trägt eine Maske (Persona), aus der das Lebendige hervortritt. Je nach aktueller Beschaffenheit der Maske, verzerrter oder reiner und lebendiger im Ausdruck. Jedenfalls aber enthält der Ausdruck immer auch Hinweise darauf, was noch fehlt, um die Maske kunstvoller zu machen. Oder anders gesagt: wie das Schöne sich an der konkreten Maske zum Ausdruck bringen will. Das Schöne ist das Verborgene und der Grund für den Rätselfetisch des Philosophischen Praktikers.
Eine wichtige Ergänzung sei an dieser Stelle angebracht: Das „Schöne“ wird hier als Metapher gebraucht, im Sinne dessen „was am hellsten hervorleuchtet“, nicht jedoch im Sinne eines Vorbilds oder Abbilds, eines Idols oder Modells, nach dessen Maßstab der Mensch hergestellt werden kann. (vgl. Hannah Arendt in "Vita Activa").